Schutz vor ungeprüften, unwirksamen oder schädlichen Interventionen: Warum die Standards der evidenzbasierten Medizin nicht ausgehebelt werden dürfen
Stellungnahme zur Methodenbewertungsverfahrensverordnung, MBVerfV, hier §4 Absatz 3
Am 07.05.2020 hat das Bundesministerium für Gesundheit einen Referentenentwurf für die Verordnung über die Verfahrensgrundsätze der Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung und im Krankenhaus veröffentlicht. Diese Rechtsverordnung setzt die Vorgaben des am 26.09.2019 in das Sozialgesetzbuch V neu eingeführten §91b um. Im §91b hatte sich das Gesundheitsministerium selbst ermächtigt, dem Gemeinsamen Bundesausschuss u.a. „Anforderungen an die Unterlagen und die Nachweise zur Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden“ vorzugeben. Aus unserer Sicht wird §4 Absatz 3 der Verordnung, entgegen seiner Intention, nutzenstiftende Innovationen schneller in die Versorgung zu bringen,
- die Standards der evidenzbasierten Medizin aufweichen und damit das Patientenwohl gefährden,
- die Bewertungsverfahren verzögern,
- die Motivation zur Durchführung qualitativ hochwertiger Studien abschwächen und
- ein Einfallstor für politische und kommerzielle Interessen in die Methodenbewertung bieten.
Das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V. (EbM-Netzwerk) und der Verein zur Förderung der Technologiebewertung im Gesundheitswesen (Health Technology Assessment) e.V. hatten bereits im vergangenen Jahr in mehreren Stellungnahmen (14.01.2019, 22.02.2019, 09.04.2019 und 25.09.2019) zu den geplanten Änderungen im SGB V darauf aufmerksam gemacht, dass wissenschaftliche Standards von Seiten der Politik nicht für Zwecke schnellerer Entscheidungsfindung ausgehebelt werden dürfen. Dies steht dem höherrangigen Interesse von Patientinnen und Patienten, aber auch der Solidargemeinschaft, zum Schutz vor ungeprüften, unwirksamen oder schädlichen Interventionen entgegen. Leider ließen sich weder der Gesundheitsausschuss des Bundestages noch der Bundestag selbst von diesen und zahlreichen weiteren Stellungnahmen anderer Fachgesellschaften beeindrucken.
Wie werden die Evidenzstandards durch die Rechtsverordnung aufgeweicht?
Neben einer Reihe von Vorschriften zum Bewertungsprozess enthält die Verordnung auch eine Regelung, die viele Befürchtungen des letzten Jahres bestätigt. Paragraph 4 schreibt vor: „Auf die Einbeziehung von Unterlagen niedriger Evidenzstufen kann verzichtet werden, wenn die Bewertungsentscheidung bereits aufgrund hinreichend aussagekräftiger Unterlagen einer höheren Evidenzstufe getroffen werden kann.“ In der Begründung heißt es dazu konkretisierend: „(…) Das bloße Fehlen hinreichend aussagekräftiger Unterlagen der höheren Evidenzstufen rechtfertigt demgegenüber nicht, auf eine Auswertung von Unterlagen niedriger Evidenzstufen zu verzichten. Liegen allein Unterlagen niedriger Evidenzstufen vor, sind diese auszuwerten und auf dieser Grundlage die für die Bewertung der Methode erforderliche Abwägungsentscheidung zu treffen.“ Mit „niedriger Evidenzstufen“ sind ausweislich §4 Abs. 3 des Verordnungsentwurfs auch „Fallserien und andere nicht vergleichende Studien, (…) Assoziationsbeobachtungen, pathophysiologische Überlegungen, deskriptive Darstellungen, Einzelfallberichte, u. ä.; nicht mit Studien belegte Meinungen anerkannter Expertinnen und Experten, Berichte von Expertenkomitees und Konsensuskonferenzen“ gemeint.
Wird die Entscheidungsfindung durch diese Vorschrift schneller?
Das maßgebliche Ziel für die Änderungen im Verfahren der Methodenbewertung war eine Sicherstellung von zeitgerechten Entscheidungen. Die angekündigte Regelung wird hingegen dazu führen, dass der Aufwand für die Bearbeitungen enorm ansteigt, da es deutlich mehr Zeit braucht, Evidenz ohne jegliche Einschränkungen hinsichtlich des Studiendesigns zu recherchieren und auszuwerten. Dies ist aber nicht mit einer höheren Aussagesicherheit verbunden. Wenn der Evidenzkörper, zum Beispiel nach dem Evidenzbewertungsinstrument GRADE, mit „sehr niedrige Qualität“ beurteilt wird, könnte es aufgrund zu großer Unsicherheit dazu kommen, dass der Methode kein (Zusatz)nutzen attestiert werden kann. Schon der Verzicht auf eine Kontrollgruppe führt dazu, dass eine vergleichende Bewertung mit dem aktuellen Standard in der Versorgung nicht mehr möglich ist. Es gibt genügend historische Beispiele für die gesundheitlichen Konsequenzen von „nicht mit Studien belegten Meinungen anerkannter Expertinnen und Experten“ zu medizinischen Maßnahmen. Der in der Verordnung vorgeschlagene Zugang zur Bewertung wird das Verfahren daher eher verzögern als beschleunigen.
Welchen Effekt haben die neuen Vorschriften auf die Durchführung von aussagekräftigen Studien?
Die wissenschaftlichen Überlegungen, die zu der Forderung von RCTs als Regelfall für den Nachweis des Nutzens von Innovationen in das Gesundheitssystem geführt haben, werden durch die Rechtsverordnung nicht in Frage gestellt. Bei schlechter Evidenzlage würde ein verantwortungsvolles Gremium nach wie vor im Sinne von nil nocere, aber auch entsprechend der Vorgaben des Wirtschaftlichkeitsgebots (§2 Abs. 4 und §12 Abs. 1 SGB V: „Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.“) gegen eine Kostenübernahme entscheiden. Wird der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) jedoch gezwungen, immer auf der Basis ungeeigneter Evidenz Entscheidungen zu treffen, entfällt der Anreiz für Hersteller und Forscher, adäquat geplante Studien, insbesondere RCTs, zum Nachweis des Nutzens durchzuführen. Das wäre auch im Hinblick auf die (verschobene) Änderung des Medizinprodukterechts ein klarer Rückschritt.
Was bedeutet die Verordnung für die Unabhängigkeit der Bewertung?
Schließlich eröffnet die MBVerfV ein weiteres Einfallstor für politische und kommerzielle Interessen. Entscheidungen des G-BA können mit Verweis auf die Pflicht zur Berücksichtigung niedriger Evidenzstufen seitens des Gesundheitsministeriums (gemäß §94 SGB V) beanstandet werden. Hypothetische Beispiele lassen sich viele konstruieren – z. B. Experten wenden sich an dasMinisterium, weil sie eine andere Auffassung zur bewerteten Technologie haben oder Hersteller drängen darauf, dass eine kleine Fallserie zu ihrem Produkt in der Entscheidungsfindung berücksichtigt wird.
Unser Fazit:
Die Aufweichung der Bewertungsstandards des G-BA bedeutet letztlich eine Erhöhung der Unsicherheit mit potentiellen Nachteilen für Patientinnen und Patienten. Die seit vielen Jahren vom IQWiG und vom G-BA praktizierte Bewertung von innovativen Methoden entspricht den internationalen Standards der evidenzbasierten Medizin, und diese Standards wurden vom Gesetzgeber und in vielen Gerichtsverfahren wiederholt bestätigt. Anstatt die Entscheidungsfindung in der Selbstverwaltung zu unterminieren wäre es vielmehr notwendig, die Voraussetzungen für die Durchführung von aussagekräftigen klinischen Studien, insbesondere von RCTs, zu verbessern, die den Nutzen von Innovationen zweifelsfrei nachweisen können.
Das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V. (EbM-Netzwerk) und der Verein zur Förderung der Technologiebewertung im Gesundheitswesen (Health Technology Assessment) e.V. sprechen sich daher gegen die Verankerung dieser Regelung in der Rechtsversordnung aus und fordern die ersatzlose Streichung von §4 Absatz 3 MBVerfV.
Ansprechpartner/innen
Für den Vorstand des EbM-Netzwerks
Dr. Dagmar Lühmann Stellvertretende Vorsitzende
Für den Vorstand von HTA.de
PD Dr. Matthias Perleth, MPH
E-Mail: kontakt@ebm-netzwerk.de
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